Die Fähigkeit zur Empathie entscheidet, ob ein Kind sadistisch handelt, sagt Psychologe Jan-Uwe Rogge.

Gibt es Kinder, die einfach böse sind?

Jan-Uwe Rogge: Das ist eine alte Frage: Natur oder Erziehung? Sadistische Handlungen von Kindern sind ja nicht neu. Denken Sie an den Fall von James Bulger, dem Zweijährigen, der 1993 von zwei Zehnjährigen getötet wurde. Für mich ist „das Böse“ Ausdruck von Erziehung – oder besser gesagt – von Nichterziehung. Natürlich weiß man heute aufgrund neurologischer Untersuchungen, dass es Kinder und Jugendliche gibt, die in diesem Bereich Störungen aufweisen. Das macht es ihnen schwer, sich in andere hineinzuversetzen.

Doch auch sozusagen gut erzogene Kinder haben manchmal das Bedürfnis, die Katze am Schwanz zu ziehen.

Zwei- bis vierjährige Kinder haben hin und wieder den Drang, die Katze zu quälen, Pflanzen zu vernichten oder andere Kinder zu zwicken. Das ist in dieser Phase normal. Auch sadistische Grenzüberschreitung gehört zur Entwicklung dazu. Entscheidend ist, dass angemessen darauf reagiert wird. Bei allem Verständnis darf man das nicht akzeptieren, sondern muss eine moralische Position einnehmen. Denn das Element des „Bösen“ schwindet zwar, je moralischer man wird, doch die unmoralischen Reste bleiben in uns drin. Wichtig ist, dass wir lernen, diese Reste einzukapseln. Aber dass jeder in jedem Moment, wenn er diese Kontrolle verliert, auch im Erwachsenenalter zum Sadisten werden kann, dafür gibt es ja viele Beispiele.

Steckt hinter dem Drang, die Katze oder den kleinen Bruder zu quälen, noch etwas anderes als die Suche nach Erfahrung?

Hinter dem Drang, den Bruder zu quälen, steckt möglicherweise Geschwisterrivalität, möglicherweise das Gefühl, nicht beachtet zu werden und nur durch grenzüberschreitende Aktionen Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn ein Vierjähriger quält, heißt das auch, dass ihm Empathie fehlt. Vom vierten oder fünften Lebensjahr an muss man Mitgefühl im Ansatz erwarten können. Aber mit Mitgefühl kommt niemand in diese Welt. Das ist das Produkt von Erziehung. Viele Kinder, die quälen, haben in ihrer direkten Umgebung keine Empathie und kein Mitgefühl erfahren. Wir haben es hier mit einem fehlgelaufenen moralischen Entwicklungsprozess zu tun.

Geht es immer um Macht?

Es geht um Machtausübung, um Unterwerfung. Natürlich wird es immer wieder Kinder und Jugendliche geben, die Lust am Leiden anderer haben. Aber das hat ja auch im weitesten Sinne mit Macht zu tun.

Neigen Alphakinder eher dazu?

Gerade Kinder mit großem Selbstbewusstsein neigen eher nicht dazu. Die werden weder Täter noch Opfer.

Was machen Eltern, die glauben, ihre Kinder gut erzogen zu haben und plötzlich solch ein Verhalten beobachten?

Die meisten Eltern merken nicht, dass ihre Kinder zu Tätern werden, weil sie ihre Kinder ja genauso behandeln. Die Gefühlskälte der Kinder ist ein Ausdruck der Gefühlskälte der Eltern. Diese Kinder haben wichtige Erfahrungen in ihrer Sozialisation nicht gemacht.

Daher kann man das wohl auch nicht als schichtspezifisches Phänomen sehen?

In England werden Kinder aus der Arbeiterklasse eher zu Sadisten körperlicher Art, während die oberen Schichten eher zu Grausamkeiten psychischer Art neigen. Aber dieses Phänomen darf man nicht auf Deutschland oder Österreich übertragen. Wir haben auch in der oberen Mittelschicht eine ganze Reihe von emotional verwahrlosten Kindern und Jugendlichen.[download id=“1338″ template=“button“]