Ein tolles Beipspiel wie Kinder lernen: Der sechsjährige Viktor sitzt in seiner Sandkiste, gräbt mit einer kleinen Schaufel und seinen Händen ein Loch. Berge von Sand türmen sich um ihn herum auf. Er hat Spaß, freut sich an seinem Tun, obgleich er wieder und wieder von vorn beginnen muss, rutscht doch ständig Sand in die frisch ausgehobene Grube. Unermüdlich macht er weiter, als sein Vater hinzutritt und nachfragt, was er denn da so eifrig treiben würde. „Ein Loch graben“, antwortet Viktor gelangweilt: „Siehst du doch!“ Die Frage seines Vaters scheint völlig überflüssig. Viktor zieht seine Augenbrauen hoch: „Er sieht doch, was ich mache“, scheint seine Mimik auszudrücken. „Und warum?“

kinder erforschen, entdecken und erfindenKinder erfinden, erforschen und entdecken

Die Frage des Vaters will Interesse ausdrücken. „Darum!“ Viktor grinst breit, will seinen Vater aber nicht im Regen stehen lassen: „Ich suche den großen grünen Steinefresser!“ „Wie bitte?“ Die Stimme des Vaters kann ein Erstaunen nicht verbergen: „Was bitte?“ Viktor ist nicht aus der Ruhe zu bringen: „Den großen grünen Steinefresser. Der lebt einen Meter unter der Erde!“ Viktor schaufelt weiter, sieht nicht das verständnislose Gesicht, überhört sein hingenuscheltes „Ach so!“, das einem „Jetzt spinnt der mal wieder!“ gleichkommt. Viktors Vater lässt seinen Sohn kopfschüttelnd alleine, kommt aber nach einiger Zeit zurück. Viktor strahlt, er kniet in seiner Kuhle, seine Arme sind bis zum Ellenbogen darin verschwunden. Bevor der Vater etwas sagen kann, sieht er ihn nachdenklich an: „Wenn ich jetzt weiter gegraben hätte, ganz durch, bis auf die andere Seite der Erde und einen Stein hineingeschmissen hätte, wo wäre der wohl rausgekommen?“ Viktors Vater denkt nach. „Na, sag schon“, drängelt der Sohn. „In der südlichen Halbkugel. Vielleicht in Australien, in Neuseeland!“, antwortet der Vater. Viktor schlägt sich mit der Hand vor die Stirn: „Quatsch Papa!“ Dann schüttelt er vehement seinen Kopf. „Papa, denkt doch mal nach!“ Der Vater zuckt mit seinen Schultern: „Weiß nicht! Was meinst du?“ „Oh Papa! Du kapierst nichts! Rein gar nichts!“ Dann lächelt er breit: „Nach einem Meter wäre der große grüne Steinefresser gekommen und hätte sich den Stein geschnappt!“ Der Vater bricht in Lachen aus: „Viktor, du spinnst. Und das aber richtig!“

Viktors Vater hat natürlich recht. Kinder „spinnen“ – auf eine wundersame Art und Weise. Kinder stellen die Welt auf den Kopf, fordern die Erwachsenen mit ihrer rationalen Sichtweise heraus. Kinder sehen die Welt anders. Ihnen ist die Oberfläche zu langweilig. Sie wollen dahinter sehen, möchten erfahren, was das ist, was da vor sich geht. Kinder träumen sich in ferne und nahe Welten. Sie setzen ihre magischen und phantastischen Fähigkeiten ein, um der Wirklichkeit auf den Grund zu gehen, Hintergründe zu erkunden. Kinder fragen nach dem Warum, danach, wo man herkommt und wo man hingeht.

Sie sind an dem Anfang und an dem Ende interessiert. Sie stellen Fragen, die Erwachsene nicht selten verblüffen, sprachlos machen: „Wo war ich, bevor ich bei Euch war?“ Sie wollen also etwas über die Ursprünge erfahren, über ihre Wurzeln. Und jedes Kindergartenkind hat da ganz eigene, wunderschöne Schöpfungsmythen, die von ihrer Neugierde zeugen, davon eigene Antworten auf existentielle Fragen zu finden, die beweisen, dass die Kraft kindlicher Phantasie – trotz medialer und überzogen pädagogischer Beeinflussung (unter der Überschrift: „Ich meine es doch nur gut mit dir!“) – nicht zu brechen ist.

Über die Phantasie, die Kreativität und die Neugierde der Kinder

Die Phantasie der Kinder ist eine Produktivkraft, die ihnen hilft, ihr Leben – manchmal unter Widrigkeiten – zu gestalten und zu bewältigen. Eine Kraft freilich, die auch an Tabus rührt: „Kannst du sterben, Mama?“ Eine Frage, die sprachlos macht, die verzweifelt nach richtigen Antworten suchen lässt. Dabei wollen Kinder doch vielleicht ein einfaches, ehrliches „Ja“, haben sie dann doch ein tröstendes „Aber noch nicht so schnell!“ parat.

Mit „Warum“-Fragen wollen sie die Welt, ihre Wirklichkeit erkunden, hinter die Fassade schauen, Doch sind Fragen nur eine Möglichkeit, um ihre Neugierde zu befriedigen. Kinder – wie Viktor – sind Entdecker, die ihre Hände, die ihren Körper einsetzen, um die Realität zu verstehen. Das ist nun keine neue Erkenntnis, sondern eine, die sich von Johann Heinrich Pestalozzi, der im 18. Jahrhundert darüber nachdachte, über Friedrich Fröbel und Maria Montessori bis in die Gegenwart hinein fortsetzt. Pestalozzi hat dies in drei prägnanten Sätzen – sinngemäß – so ausgedrückt: Das Verstehen setzt das Stehen voraus! Das Begreifen läuft über das Greifen! Das Erfassen beginnt mit dem Fassen! Um es allgemeiner zu formulieren: Jeder abstrakten geht eine körperlich-sinnliche Erfahrung voraus. Und Kinder leben dieses Moment vor. Sie fassen Sachen an und erfassen damit die Form und die Beschaffenheit eines Dings. Wenn Kinder Welt erfahren, sind alle Sinne beteiligt: das Sehen, das Hören, das Riechen, das Schmecken, das Greifen.

Das hört sich widerspruchsfreier an, als es in der pädagogischen Wirklichkeit ist. Die industriell gefertigten, in Plastik oder Holz, in glitzerndes Design und modischen Formen genormte Oberflächen sind glatt und jeder Blick oder Griff dahinter, birgt Probleme, bringt Probleme mit sich.

Ben ist knapp drei Jahre. Er ist ein neugieriger Forscher par excellence. Nichts ist vor ihm sicher. Mit Begeisterung gräbt er das Blumenbeet seiner Mutter, um die Wurzeln der Büsche zu entdecken, er zieht jede Schublade, der er habhaft werden kann, auf. Auch die CD-Anlage, der Augapfel seines Vaters, ist vor seiner Neugierde und seinem Forschungsdrang nicht sicher. Das elterliche „Nein!“ oder „Lass das!“ entmutigt ihn nicht, es scheint ihn eher noch anzustacheln, seine schöpferischen Fähigkeiten herauszufordern.

Und dann ist da noch der achtjährige Jakob, der gerne in den Keller geht, wo sich das Werkzeug seines Vaters befindet. Obgleich ihm die Eltern kindgerechte Geräte gekauft haben, nichts ist so faszinierend wie der „große“ Hammer, das „scharfe“ Beil oder die „richtige“ Säge, mit der er sich auf den Weg machte, seine Fähigkeiten auszuprobieren. Das bringt dann nicht unbedingt Ergebnisse hervor, die Freude machen – so wie neulich als er einen Apfelbaum angesägt hatte, um zu sehen, ob auch „Stämme bluten“, wie er zur Verteidigung seines Tuns erklärte.

Kinder handeln, bringen dabei – im wahrsten Sinne des Wortes – etwas auf den Begriff. Kinder machen dabei Erfahrungen, die ihnen helfen, zu einer selbstbewussten Persönlichkeit zu werden. „Probieren geht über Studieren“, dieser manchmal so dahergesagte Satz, stellt die Grundlage für ein entdeckendes Lernen dar, das für Kinder so wichtig ist.

Kinder wollen lernen

Auch wenn der nächste Satz vielleicht Kopfschütteln auslöst: Kinder wollen lernen, Kinder wollen etwas leisten. Kinder sind motiviert, wenn man ihnen Räume anbietet, die sie anregen, sich auszuprobieren. Was allerdings auffällt: Schreibt man ihnen vor, wie sie sich zu verhalten haben, setzt man ihnen Lernziele vor, die mit ihrer Lebenswirklichkeit und ihren Entwicklungsbesonderheiten nichts zu tun haben, dann verweigern sie sich, dann wird es ihnen schnell fad, dann ziehen sie sich in ihr Schneckenhaus zurück.

Kinder dort abzuholen, wo sie sich entwicklungs- und altersgemäß befinden, das setzt voraus, sich in sie hineinzuversetzen, Dinge aus ihrer Sicht zu sehen und damit zu verstehen. Dies meint: Wenn ein Kind vier Jahre ist – ist es nicht sechs. Es hat seine ganz eigene Sicht von der Welt, eine Mischung aus dem Sinn für Realität und für Magie. Es weiß, was es will (und was nicht) und zugleich kann es selbstvergessen mit dem Käfer im Sand und auf der Wiese sprechen und mit dem Baum reden, sich an den Stamm anschmiegen und ihn beim Atmen zuhören. Das achtjährige Kind ist anders. Es durchdringt die Wirklichkeit mit seinen Gedanken und zugleich liebt es die Zerstreuung: auf dem Bett liegen, an die Decke starren, träumen, mit dem unsichtbaren Freund reden, in die Unendlichkeit des Weltalls abdriften, neugierig sein darauf, ob es jenseits der Milchstraße auch Kinder gibt, die von ihren Eltern genervt sind mit immer denselben Sprüchen: „Räum dein Zimmer auf!“ „Mach deine Hausaufgaben!“ „Trödel nicht immer so rum!“

Erziehung ist nicht Vorbereitung auf das Leben, Erziehung ist das Leben selbst. Erziehung passiert in jedem Augenblick. Doch erleben das viele Kinder gegenwärtig anders. Wenn sie in den Kindergarten kommen, spätestens wenn irgendwann – meistens Monate davor – die Einschulung ansteht, drehen sich alle Gespräche um den neuen Lebensschnitt („Jetzt fängt der Ernst des Lebens an!“), besuchen sie dann die Grundschule, richten sich die Blicke schon auf eine weiterführende Institution.

Man lässt Kindern keine Zeit. Beschleunigung ist das Gebot der Stunde: G-8-Abitur, japanische Kurse für Drei-Jährige! Immer schneller, immer früher, immer intensiver. Und dabei übersieht man: Wer immer schneller in die Kurven geht, den schmeißt es irgendwann aus der Bahn. Vieles ist für Kinder vorherbestimmt, alles in einem festen Zeitplan – von morgens bis abends eingepresst. Und die selbstbestimmten Zeiten bleiben dabei auf der Strecke.

Kinder brauchen freie Zeiten, Zeiten, in denen sie sich lang-weilen, in denen sie sich zerstreuen, in denen sie abhängen, in denen sie alles um sich vergessen, in denen sie „chillen“, um ein Modewort zu gebrauchen.

Für Pestalozzi waren „Langeweile“ und „Zerstreuung“ positive Begriffe. Sie bezeichneten Zeiten, in denen man wieder zu sich selber kam, bei sich war. Zeiten, in denen man relaxen konnte. Wer Zeit einem strikten Diktat unterwirft, der begrenzt Zeit und damit zugleich die Entfaltung von Persönlichkeitsentwicklung. Kinder brauchen (Frei-)Zeit, um ihre Neugierde, ihr Interesse in die Wirklichkeit umzusetzen, um etwas auszuprobieren. Sie brauchen Zeit, um alles um sich herum zu vergessen, sich aus der „schlechten“ Welt weg zu „beamen“. Kinder sind voller Sehn-süchte: mal einfach nur dazusitzen, die Ameise zu beobachten, wie sie geschäftig vorbei krabbelt und nicht ständig von Ort zu Ort im elterlichen Taxi gefahren zu werden.

Doch jetzt höre ich einige murrende Einwände:

„Natürlich“, so die skeptische Anmerkung einer Mutter, „Kinder brauchen Freiräume. Aber in diesen Räumen verlieren sie sich doch schnell. Da braucht es schon etwas Druck von außen. Natürlich keine Lernprogramme. Aber Kinder müssen schon wissen, worum es geht. Sie brauchen schon Impulse von außen, auch wenn ihnen diese manchmal nicht gefallen.“

Und ein Vater fügt nachdenklich hinzu: „Ich durfte herumstromern. Würde ich meinen Kindern auch gerne gestatten. Doch das geht nicht mehr. Das Leben verzeiht keine Fehler. Und darauf muss man Kinder vorbereiten. So leid es mir tut: Irgendwann ist Schluss mit einer Kuschelpädagogik.“

Erziehung ist Beziehung

Nochmal: Erziehung ist nicht Vorbereitung auf das Leben. Erziehung ist Beziehung. Sie soll anregen. Sie fordert Kinder (heraus), ohne sie (hoffentlich) nicht zu überfordern. Erziehung spürt, was das Kind braucht. Ansonsten zeigt ein Kind das durch sein Handeln.

Kinder wollen etwas leisten. Dabei ist ihnen das Ergebnis nicht wichtig, vielmehr der Weg dahin. Aber Kinder wollen dabei nicht getrieben sein, angetrieben werden. Kinder sind motiviert. Jedes Kind will sich beweisen. Sie brauchen keine Antreiber von außen, die ihnen den Weg weisen. Sie brauchen (elterliche) Begleiter, die ihnen Räume anbieten, in denen sich Motivation entfalten kann. Deshalb: Gebt Kindern, schafft (Frei-)Räume, in denen sie (unbeobachtet) ihre Ideen, Projekte und Vorhaben umsetzen können. Und zur Umsetzung gehört, Frustrationen zu erleben und diese auszuhalten. Auf beiden Seiten!

Dies hat eine Mutter selbstbewusst so ausgedrückt:

„Ich gelte bei meinen Freundinnen als Außenseiterin. Mir sind diese ganzen Anforderungen ziemlich egal. Mir ist es wichtig, dass meine Tochter keine Marionette ist. Ich will ein starkes Kind, das das Leben packt. Kinder wollen nicht in Watte gepackt sein. Sie müssen auch mit blauen Flecken umgehen können.“

Erziehung ist letztlich wirkungsunsicher. Man weiß nichts über ein mögliches Ergebnis. Und trotzdem gilt es, nicht auf Erziehung zu verzichten. Aber hat Erziehung immer auch mit Demut zu tun.

Im Wort „Demut“ steckt der Begriff „Humus“, Humus: die Erde. Der demütige Mensch ist der geerdete Mensch, der um seine Stärken weiß, seine Schwächen akzeptiert. Vor allem: der nicht alles anders, nicht alles besser machen will. Gib Kindern Wurzeln, verleih‘ ihnen Flügel – frei nach Goethe. Wurzeln geben Kraft, versorgen den Baum, bilden seine Krone aus, machen ihn unverwechselbar, einzigartig und unvergleichlich.

Die Neugierde und der Forscherdrang sind Wurzeln, sie stärken Kinder, lassen Bäume in den Himmel wachsen und verwirklichen Träume.

 

Wie Kinder lernen

Für Kinder ist das entdeckende Lernen wichtig, weil sie dabei wichtige Erfahrungen machen. Dabei sollte man beachten:

  • der Weg ist das Ziel. Kinder sind mehr am Weg als am Ergebnis interessiert.
  • das Tun, das Handeln sind für Kinder wichtig, weil es mit Bemühung zu tun hat und Bemühung mit Erfolg, aber auch mit Scheitern.
  • Kinder brauchen auf ihrem Weg Ermutigung und Zuwendung und da, wo es notwendig ist, auch Trost.

Kinder sind Erforscher, Erfinder, Entdecker und Praktiker. Kinder gilt es dabei zu unterstützen und zu begleiten. Vier Haltungen sind dabei wichtig:

  • Auch wenn Eltern Erziehungsverantwortung tragen, Eltern und Kinder nicht gleichrangig sind, gleichwertig sind sie allemal. Man kann von Kindern lernen – ihre Ausdauer, ihre Beharrlichkeit, ihre Bereitschaft, sich zu wundern und Fragen zu stellen.
  • Man muss Kindern zuhören können, sich in ihre Art des Denkens und Verstehens hineinzuversetzen. Dabei gilt es die Entwicklungsbesonderheit zu verstehen. Kinder denken einfach und komplex zugleich.
  • Kinder sind niemals oberflächlich. Sie sind interessiert an den Dingen hinter den Dingen. Das ist das „Land“, was sie fasziniert.
  • Gebt Kindern Raum, um sich auszuprobieren. Kinder lieben Räume, in denen sie sich unbeobachtet fühlen. Nur dort fühlen sie sich wohl.
  • Schafft Zeiten, in denen Kinder sich zerstreuen, sie ihrer Langeweile frönen können, Zeiten, in denen sie „abhängen“, in denen Neugierde und Lust auf Neues entsteht, sie Unbekanntes kennenlernen.

Einen weiterführenden Artikel zum dem Zeitempfinden von Kindern, Langeweile und Zeitstress von Kindern finden Sie in meinem Blog hier: Vom Loben und Ermutigen der Kinder und Eltern

Ein passendes Buch zum Thema finden Sie hier: Lasst die Kinder Träumen – Warum Phantasie wichtiger ist als Wissen

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