Jan-Uwe Rogge Langeweile Titelbild

Kinder sind eigenständig, sind widerständig. Sie eignen sich, wie es der Soziologe Rainer Zoll einmal für die Erwachsenenwelt formuliert hat, ihre Zeit auf ihre Art und Weise an. Sie lassen sich nicht so ohne weiteres beschleunigen. Entschleunigen ist das Gebot der Stunde. Um es an den Begriffen der Zerstreuung und Langeweile zu veranschaulichen.

Vor über 100 Jahren galt Langeweile als wichtig und notwendig. Nun ist sie wichtiger und notwendiger, aber verkannter und abgewerteter denn je. Sich aus den Vorgaben auszuklinken, der organisierten und vorgeplanten Freizeit die kalte Schulter zu zeigen, Zeit für eigene Ideen zu entwickeln, auf dem Bett zu liegen, die Hausaufgaben genauso zu ignorieren wie das pädagogisch wertvolle Spiel, das achtlos in der Ecke liegt, weil man hier nur das spielen kann, was vorgeplant und vorbestimmt ist.

„Mir ist so langweilig“ – was sich dahinter verbirgt

Wenn Kinder ständig formulieren, ihnen „sei so langweilig“, „einfach nur noch fad“, dass sie keine eigenen Ideen entwickeln, kann das in zwei Richtungen deuten: einerseits eine verdeckte Botschaft an die Eltern, sich mehr mit ihnen zu beschäftigen, in ihre Welt, in ihre Träume einzutauchen, „mitzuspinnen“, Logik und Rationalität beiseitezulassen, sich mit den Kindern auf einen gemeinsamen Weg zu machen. Kinder mögen Eltern, die nicht als Vater oder Mutter „vernünftig“ daherkommen, nur den geraden, den richtigen Weg beschreiten, die versteckten Oasen, die jenseits liegen, unbeachtet lassen. Umwege, und seien sie noch so verrückt, erweitern nicht alleine die Ortskenntnis, Umwege dienen zugleich dazu,

Persönlichkeitsanteile – eben die Phantasie – in sich zu entdecken, die verschüttet sind, die man beiseitegeschoben hat. Phantasie, so hat es der Neurologe Gerald Hüther ausgedrückt, ist das „Zusammenfügen von Erinnerungsspuren und Erfahrungen zur Kreation einer eigenen Gedankenwelt“. Das gilt für Kinder ebenso wie für Erwachsene.

Ist Langeweile ein Hilferuf?

Doch weist der stereotyp formulierte Satz, es wäre alles so langweilig, noch auf einen anderen Sachverhalt hin. Es fällt auf: Kinder, bei denen alles verplant ist, oder aber jene, die keine Alltagsstrukturen erfahren, die nicht wissen, woran sie sind, die sich alleingelassen fühlen, diesen Kindern ist es eben sehr schnell langweilig, weil sie keine Bindung, keine Beziehung haben. Hier stellt Langeweile einen Hilferuf dar. Langeweile ist eben nicht Langeweile, es kommt darauf an, in welchen Bezügen sie erlebt wird.

Fühlt ein Kind sich in Beziehungen aufgehoben, dann ist Langeweile für die Persönlichkeitsentwicklung ausgesprochen wichtig. Sie stellt eine Zeit dar, die nur dem Kind gehört. Deshalb reagiert es so vehement, so barsch, wenn ihm vorgeworfen wird, es langweile sich wohl wieder. Solchen Satz deutet es als Eingriff in seinen Wunsch nach Autonomie, danach, die Eigenzeit so zu gestalten, wie man es selber möchte. Langeweile, das heißt, auf dem Bett zu liegen, an die Decke zu starren, vor sich hin zu träumen, das heißt, Zeit für eigene Ideen zu haben, diese zu vertiefen, Zeiten, in denen nichts, aber rein gar nichts ge- und verplant ist. Langeweile ist eine Quelle der Kraft. Aber wer zu dieser Quelle will, so heißt es in einem chinesischen Sprichwort, der muss gegen den Strom schwimmen.

Ein zerstreutes Kind – nicht bei der Sache. Oder doch?

Ähnliches trifft auf die Zerstreuung zu. Ein zerstreutes Kind, so die landläufige Meinung, ist ein Kind, was nicht bei der Sache ist. Stimmt! Doch warum müssen Kinder bei jeder Sache sein, die von außen vorgegeben wird: Da ist der siebenjährige Malte, der im Schulunterricht aus dem Fenster schaut, weil auf dem Fensterbrett ein Zaunkönig hockt. Der ist doch viel wichtiger als die Buchstaben, die die bemühte Lehrerin ihm anbietet. Der Zaunkönig fliegt gleich weg, die Buchstaben aber bleiben. Da ist die vierjährige Anna, die in ihrem Zimmer hockt wie eine Prinzessin, eine umtriebige Mutter um sich herum, die zum Aufräumen bewegen will. Doch sieht Anna keinen Anlass dazu, findet sie doch in ihrem Chaos alles wieder. Die Einzige, die durchdreht, ist ihre Mutter. Kinder lieben die „Streu-Ordnung“, denn in der Zerstreuung sind strukturierende Elemente enthalten, die nur die Kinder, aber nicht die Erwachsenen erblicken und zu deuten wissen.

Und da ist dann noch der knapp sechsjährige Benjamin, der in den Kindergarten muss, aber „der aus dem Anziehen seiner Schuhe“, so seine Mutter, „ein Projekt macht“. Der untersuche jeden Morgen seine Schuhe, die Schnüre, die Lasche, „einfach alles!“ Sie würde durchdrehen, Benjamin säße da wie „ein kleiner Wissenschaftler“, durchdenke alles, käme vom „Hundertsten ins Tausendste“, der könne sich mit allem beschäftigen, würde allen Dingen auf den Grund gehen. Albert Einstein hat einmal von „der heiligen Neugier des Forschens“ gesprochen, die in Kindergarten und Schule, aber nicht nur da, wieder angesagt ist. Kinder wollen hinter die Dinge schauen, sie begreifen, sie erfassen – und das so lange, bis sie die Zusammenhänge begriffen haben. Mag das aus der Sicht der Erwachsenen noch so zusammenhanglos, noch so zerstreut daherkommen, für Kinder macht das Sinn, macht Zusammenhänge erfahrbar.

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