Jan-Uwe Rogge - Wozu erziehen

Erziehung hat nichts mit Ziehen zu tun. In der indischen Mythologie gibt es ein Bild: Man schaut dem Gras beim Wachsen zu. Wenn man am Grashalm zieht, damit er schneller wächst, dann reißt man ihn mitsamt seiner Wurzeln aus der Erde. Dieser Halm verdorrt. Erziehung ist deshalb Begleitung der Kinder in das Leben. Erziehung hat mit Gelassenheit zu tun, eine Gelassenheit, die nicht zu verwechseln ist mit laisser-faire, mit gedankenlosem Wachsenlassen.

Das Kind braucht Halt, es braucht Geborgenheit

Deshalb stellt sich Erziehung in den unterschiedlichen Entwicklungsphasen eines Kindes so verschieden dar: Je jünger das Kind, umso mehr Begleitung braucht es, je älter, je selbständiger es wird, umso mehr kann es losgelassen werden. Doch hat Loslassen nichts mit Fallenlassen zu tun. Das Kind braucht Halt, es braucht Geborgenheit, es benötigt jemanden, der erzieherische Verantwortung übernimmt. Man darf sich aus der Erziehung nicht zurückziehen, weil sich die Heranwachsenden ansonsten alleingelassen fühlen. Denn Erziehung hat viel mit Bindung, mit Empathie, mit Annahme zu tun. Erziehung dient dazu, dass sich selbstbewusste, eigenständige Persönlichkeiten ausbilden, die sich ihrer Stärken, ihrer Kompetenzen bewusst sind. Die aber zugleich wissen, was sie (noch) nicht können.

Erziehung ist Vorbild und Liebe, so hat es Fröbel einst formuliert. Vorbild sein, meint vorzuleben, nicht aber „vorzulabern“, und Liebe bedeutet, sich selber zu mögen – mit all seinen Stärken, aber zugleich auch mit seinen Unzulänglichkeiten. Kinder brauchen Bezugspersonen, an denen sie sich orientieren, an denen sie sich reiben, an denen sie sich abarbeiten können. Sie brauchen nicht den „pädagogischen Terminator“, der alles weiß und kann, vielmehr einen Menschen, der Kinder als ein Geschenk ansieht, von dem er etwas lernen kann. Erziehung ist eine Beziehung, die wechselseitig ist. Viele Eltern, Pädagogen, Erzieherinnen wissen das natürlich – aber zugleich wollen sie alles richtig machen, wollen perfekt sein, bloß keinen Fehler machen.

Meine Mama will mein Bestes! Aber was bleibt dann für mich?

Dabei ist das Ergebnis von Erziehung in ihrer Wirkung unsicher. Man weiß nicht, was wirklich herauskommt. Kinder spüren dies. Die neunjährige Barbara hat das neulich so ausgedrückt: „Meine Mama will mein Bestes!“ Um nach kurzer Überlegung hinzuzufügen: „Aber was bleibt dann für mich?“

Kinder möchten im Erziehungsprozess einbezogen sein. Das meint partnerschaftliche Erziehung. Partnerschaftlichkeit hebt die Erziehungsverantwortung, die Eltern haben, nicht auf, Partnerschaftlichkeit hebt auf die Gleichwertigkeit in den Erziehungsbeziehungen ab: Man gibt etwas! Und man bekommt etwas!

Nun kommen Kinder nicht als unbeschriebene Wesen auf diese Welt – manche kommen als ein ICE, manche als eine Schnecke. Erziehung hat die Aufgabe, die ganz unterschiedlichen Kompetenzen von Kindern zu begleiten. Pestalozzi hat einmal geschrieben: Vergleiche nie ein Kind mit einem anderen, es sei denn mit sich selbst! Und das bringt eine Erziehungshaltung mit sich, die in der indischen Philosophie in einer Geschichte enthalten ist.

Dort gibt es drei Erzieherpersönlichkeiten: Die eine ist der Wissensvermittler, der seine Kinder als einen leeren Topf empfindet und sie mit seinem Wissen füllt. Die andere sieht in den Kindern ein Stück ungeformtes Leben und die versucht, Kinder nach seinen Vorstellungen zu formen. Die dritte empfindet sich als Gärtner, der weiß, manche Pflanze braucht mehr Sonne, mehr Wasser, eine andere Schatten und weniger Flüssigkeit.

             

Erziehung ist eben Beziehung – zu sich und zu den Kindern.

Manchmal gehört viel Glück dazu, wenn es gelingen soll, Kinder durch die Fährnisse der Entwicklung zu begleiten, mit ihnen einzelne Etappen – auch schwierige, sei es das Trotzalter, die Pubertät, seien es Krisen oder Krankheiten – zu bewältigen. „Glück“, so hat es der Pädagoge Haim Ginott bemerkt, „ist kein Ziel, es ist eine Art des Reisens. Glück ist kein Selbstzweck. Es ist ein Nebenprodukt des Arbeitens, Spielens, Liebens und Lebens. Das Leben fordert notwendigerweise eine Verzögerung zwischen Wunsch und Erfüllung, zwischen einem Plan und dessen Realisierung. Mit anderen Worten: Das Leben bringt Frustration mit sich und verlangt das Aushalten von Frustration.“

Deshalb ist Dankbarkeit ein wichtiger Reisebegleiter: dankbar auf seine Kinder zu schauen, dankbar dafür zu sein, dass sie da sind, dafür Sorge zu tragen, dass sie sich bedingungslos geliebt fühlen. Dies gilt besonders für jene Situationen, die nicht so laufen, wie man es sich wünscht. Es ist einfach, Kinder dann anzunehmen, wenn alles so läuft, wie man es geplant hat, wie man es sich wünscht. Aber Kinder wollen sich vor allem dann begleitet fühlen, wenn man sich im Wellental befindet, man ganz unten liegt. Kinder wollen dann keine Vorwürfe hören, aber genauso gilt, dass Eltern sich nicht in Selbstvorwürfen ergehen.

Bezogen auf die Erziehung heißt das: Man meint, alles müsse einem gelingen, weil man von dem Gedanken pädagogischer Machbarkeit durchdrungen ist. Man will nicht nur erziehen, man will richtig (!) erziehen, sich jeden Tag den pädagogischen Oscar am Bande verdienen, um dann hochdekoriert durch die Straßen und Plätze zu stolzieren.

Demut meint dagegen: auf dem Boden zu stehen, sich seiner Grenzen bewusst zu sein! Der demütige Mensch kennt die Grenzen seiner Fähigkeiten, weiß um seine Begrenztheit, darum, dass Handeln mit Scheitern verbunden sein kann.

Dies gilt gleichermaßen für die Erziehung: Wenn es nicht funktioniert, wenn es nicht so läuft, wie man es sich vorgestellt hat, wenn man ein Kind begleitet und es ganz anders geht, als man will, wenn es ein völlig anderes Tempo anschlägt, als man möchte, dann gilt: Suche die Schuld nicht bei anderen oder bei dir selbst! Fluche nicht: „Ich werde es nie können!“ oder lamentiere: „Wie konnte mir das passieren!“ Wer sich andauernd über sich selbst, seine Unvollkommenheiten und Unzulänglichkeiten ärgert, der hat seine Grenzen immer noch nicht akzeptiert und respektiert.

Die Kinder das Schwimmen lehren …

Im Talmud, einer Sammlung jüdischer Geschichten, stehen fünf Regeln für Eltern. Auf die vier ersten möchte ich nicht eingehen, weil sie hier unwichtig sind. Die fünfte Regel aber lautet, die Kinder das Schwimmen zu lehren. Das hört sich merkwürdig an: Schwimmen – gibt es nicht wichtigere Themen in der Erziehung?

Doch schaut man sich diese Regel genauer an, enthält sie auf wundersame Weise die Balance und die Spannung von Haltgeben und Loslassen.  Der Säugling liegt in den ausgestreckten Armen von Vater und Mutter, deren Arme fast auf der Wasseroberfläche ruhen. Das Kind hat das Gefühl absoluter Geborgenheit: „Mir kann nichts passieren!“ Wenn es älter wird, können die Eltern die Arme etwas tiefer sinken lassen, weil das Kind sich mit ungestümen, eckigen Bewegungen über Wasser zu halten vermag. Aber wenn seine Kräfte nachlassen, sollten die Arme der Eltern stützend nach oben geführt werden. Das Kind kann sich fallenlassen und aufgehoben fühlen.

Irgendwann kann es schwimmen. Es entfernt sich vorsichtig aus den Armen der Eltern. Aber es empfiehlt sich, dass die Eltern die Fingerspitzen aus dem Wasser halten, damit das Kind – ist es erschöpft – in den sicheren Hafen zurückkehren kann.

Dann wird es älter und kann sich auf seine eigenen Kräfte verlassen. Es entfernt sich, ist vielleicht sogar der Begleitung durch die Eltern überdrüssig geworden. Jetzt können Vater und Mutter die Arme aus dem Wasser nehmen: Sie sind leer – und gefüllt zugleich. Leer sind sie nur dann, wenn man nichts mehr spürt, zugleich am Bild des Säuglings und Kindes festhält, das einen braucht, weil sich in der Erziehung der letzten Jahre und Jahrzehnte alles um den Heranwachsenden gedreht hat.

Kinder sind Gäste, die nach dem Weg fragen

Gefüllt sind die Arme dann, wenn man den Auszug des Kindes als Chance sieht, dass aus der Elternschaft wieder eine Partnerschaft, aus Vater und Mutter wieder Mann und Frau werden, wenn man den Kindern das Gefühl vermittelt: Es war schön und ist schön mit euch, aber es ist auch schön, dass wir wieder für- und miteinander da sind.

Sich gemeinsam auf die Reise zu machen – das ist ein Grundprinzip der Begleitung und Beziehung, sich Halt zu geben und im passenden Moment auch loszulassen. Kinder sind Gäste, die nach dem Weg fragen – eine Weile stehen sie neben einem, dann wandern sie fort und ziehen aus. Sie kommen gern mal wieder vorbei, erzählen von den Abenteuern, die ihnen passiert sind – und wenn sie spüren, dass es ihren Eltern gutgeht miteinander, dann gehen sie wieder, um irgendwann – mal früher, mal später – vorbeizuschauen, um von neuen Abenteuern zu erzählen.

So sind in den „Grenzen“ zentrale Lebensprinzipien enthalten: Sie geben Halt und fordern dazu auf, sich an ihnen zu reiben, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und sie auch anzunehmen, vor allem aber, sich seiner Unvollkommenheit und damit Einzigartigkeit bewusstzuwerden. Dann wird Erziehung zwar nicht einfach, nicht frei von Konflikten, aber sie bekommt eine spürbare Leichtigkeit.

Doch manchmal erfordert es auch, Grenzen zu setzen und gleichzeitig Respekt zu schaffen. Das kann in Familien oder Lebenshpasen, in denen intensive Wutausbrüche, komplette Verweigerungshaltungen, Beleidigungen und Türenknallen an der Tagesordnung stehen, eine echte Herausforderung darstellen. Solche Konflikte sind in Familien, insbesondere Patchworkfamilien, in denen die Beziehungsgefüge besonders komplex sein können, keine Seltenheit. Statt zu tun, was gesagt wird, reagieren Kinder oft mit Wut, laufen davon oder greifen sogar zu Beleidigungen. Das kann wahnsinnig belastend und anstrengend sein, sowohl für die begleitenden Eltern, als auch anderen.

In solchen Momenten klingen Sätze wie „Ich habe hier das Sagen“ oder „Solange du in meinem Haushalt lebst…“ in den Ohren nach, der Wunsch, hart durchgreifen ist groß, oder? Diese Gedanken und das Handeln scheinen jedoch kaum etwas an der angespannten Situation zu ändern. Das Gefühl der Wut und Hilflosigkeit macht sich breit. Wie ist es am sinnvolsten, mit diesen wieder auftretenden Situationen besser umzugehen? Wie erreicht man das Ideal, wenn der Familienalltag von Streitigkeiten, Missverständnissen und emotionalen Ausbrüchen geprägt ist?

Im Workshop „Grenzen setzen, Respekt schaffen – Authentisches Miteinander“ nehmen wir uns genau diesen Herausforderungen an. Wir verstehen, dass ein authentisches Miteinander in der Familie auf gegenseitigem Verständnis, klaren Regeln und Respekt beruht und es zunächst wichtig ist, anzunehmen, was gerade geschieht.

Wir bieten Lösungsansätze und Methoden, um solche schwierigen Situationen zu meistern. Die ersten Anzeichen von Spannungen erkennen, darauf angemessen zu reagieren, wie Ruhe bewahrt werden kann, selbst wenn die Emotionen hochkochen und auf welche Weise liebevoll Grenzen gesetzt werden können.

>> Alle Infos und Anmeldung zum Workshop am 10.04.

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