
Manchmal glauben Eltern, Kinder müssten funktionieren wie Fahrpläne. Pünktlich, verlässlich, ohne Verzögerungen. Und dann stehen sie morgens vor einem Kind, das sich mit der Ruhe einer kleinen Schnecke in den Tag tastet – träumend, prüfend, verweilend.
Oder sie erleben das Gegenteil: ein Kind, das wie ein ICE durch den Alltag rauscht und sie atemlos zurücklässt.
Im Laufe meiner Arbeit habe ich verstanden: Kinder kommen mit einem eigenen Tempo zur Welt. Manche bewegen sich langsam, andere schnell.
Beide Arten machen Sinn. Beide sind Ausdruck einer ureigenen kindlichen Logik.
Die Kunst der Langsamkeit – was Schnecken uns zeigen
Schnecken sind besondere Lehrmeister.
Sie stellen sich nicht gegen uns, sie stellen uns vor uns selbst. Sie erinnern an etwas, das wir Erwachsenen verloren haben: die Fähigkeit, im Moment anzukommen.
Ich begegne oft Eltern, die erzählen, wie sehr ihr Kind „trödelt“. Doch in diesem Trödeln steckt häufig eine Form von Konzentration, ein Innehalten vor dem nächsten Schritt. Kinder leben nicht in vorgegebenen Abläufen. Sie leben in einem inneren Rhythmus, der ihnen Orientierung gibt.
Die Langsamkeit der Kinder ist kein Mangel. Sie ist eine Kraftquelle.
Wenn Kinder wie ICEs durchs Leben rasen
Nur wenige Meter weiter im Familienalltag begegnet mir das Gegenteil: Kinder, die vor Energie schäumen. Kinder, die denken, fühlen, springen, reden, bevor Erwachsene überhaupt verstanden haben, was hier gerade passiert.
Diese Kinder brauchen Halt, keine Bremse.
Sie brauchen Orientierung, keine Einengung.
Ihre Geschwindigkeit ist Ausdruck von Vitalität – und auch ein Hinweis an uns Eltern: Schau hin. Sei klar. Sei präsent. Halte das aus.
Warum wir oft genau das Kind bekommen, das wir brauchen
In all den Jahren habe ich immer wieder erlebt:
Man bekommt nicht das Kind, das man sich ausgesucht hätte.
Man bekommt das Kind, das einen weiterbringt.
Perfektionistisch veranlagte Eltern treffen oft auf Kinder, die entschleunigen. Kinder, die mit ihrer Langsamkeit auf liebevolle Weise klarstellen: „Lass los. Vertraue.“
Andere Erwachsene, die gerne vorsichtig unterwegs sind, begegnen einem Kind, das mit der Wucht eines Schnellzugs durchs Leben fährt. Und das sagt: „Komm, trau dich. Werde mutiger.“
Kinder spiegeln uns. Nicht indem sie uns nacheifern, sondern indem sie uns herausfordern.
Entwicklung folgt keinem vorgefertigen Fahrplan, sondern im Gelände seiner Möglichkeiten
Kindliche Entwicklung ist kein Fahrplan. Sie kennt keine lineare Strecke.
Sie besteht aus Stillstand, Sprüngen, Umwegen und überraschenden Wendungen.
Ich habe Kinder erlebt, die große Schritte machen und am nächsten Tag scheinbar zurückfallen. Kinder, die plötzlich stehenbleiben, weil ein Gedanke oder Gefühl sie beschäftigt. Und ich habe Kinder gesehen, die – wenn der Moment stimmt – mit einer rasanten Klarheit loslaufen.
So entsteht Persönlichkeit: im Wechselspiel zwischen Tempo und Pause.
Momente, in denen die Zeit stillsteht
Ich erinnere mich an einen Jungen, der im Unterricht reglos aus dem Fenster schaute. Nicht, weil er träumte, sondern weil auf dem Sims ein Zaunkönig saß. Für die Lehrerin war es eine Ablenkung. Für den Jungen war es ein unwiederholbarer Augenblick. Die Buchstaben würden warten. Der Zaunkönig nicht.
Ich denke an das Mädchen, das hüpfend zur Schule ging, erst auf dem rechten Bein, dann auf dem linken – ein kleines Ritual, mit dem sie sich Mut machte. Solche Momente zeigen mir, wie viel Sinn in der Eigenzeit eines Kindes steckt.
Kinder leben nicht gegen unsere Ordnung. Sie leben für ihr Erleben.
Die Aufgabe der Eltern: begleiten, nicht beschleunigen
Es geht nicht darum, Schnecken schneller zu machen.
Es geht nicht darum, ICE-Kinder auszubremsen.
Es geht darum, die Verbindung zu halten.
Die Beziehung, nicht das Tempo, trägt das Kind durchs Leben.
Jedes Kind reist in einer eigenen Geschwindigkeit.
Und jedes Kind hat ein Recht darauf, dass diese Geschwindigkeit ernst genommen wird.
Denn am Ende zählt nicht, wie schnell ein Kind vorankommt.
Es zählt, wie sicher es sich fühlt, wie gesehen es sich weiß – und wie selbstverständlich es seinen eigenen Rhythmus leben darf.
Ein Gedanke zum Schluss
Egal, ob Schnecke oder ICE – Kinder bringen uns weiter.
Nicht, indem sie unserem Tempo folgen, sondern indem sie uns einladen, unseres zu hinterfragen.
Begleitung bedeutet:
Ich gehe mit dir.
In deinem Tempo.
Und du darfst darauf vertrauen, dass ich da bin.
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